"Esoterisch" oder aufgeklärt spirituell? Das hilft dir, zu unterscheiden

Flow der Energien, mit dem Herzen denken, Auren, Spiralen und kosmische Kräfte ...

Viele wollen sich lieber distanzieren von einem "esoterischen Gerede", das die schnöde Wirklichkeit wiederverzaubert, um Räucherstäbchen und Wochenendseminare zu verkaufen und sich dabei die Sehnsüchte und emotionalen Verwirrungen der Menschen zu Nutze macht … oder aktuell sogar um auf der Straße gegen ein "Regime der Unterdrückung" zu demonstrieren.

Andererseits boomen ganzheitliche Trends wie Meditation und alternative Heilmethoden und das Wissen vormoderner Kulturen wird neu entdeckt. Viele haben schon einmal Yoga ausprobiert oder waren bei Heilpraktiker*innen in Behandlung. Viele bringt es in eine neue Balance.

Wie passt das zusammen? Und vor allem: Was bedeutet das – für unsere zukünftige Haltung gegenüber spirituellem Wissen und Erfahrungen?

Aufklärung - die Matrix unseres Denkens

Finger weg von zu viel Esoterik! Diesen Warnruf des im Westen entstandenen wissenschaftlich-empirisch fundierten Denkens habe ich als Heranwachsende verinnerlicht. Man nähert sich Aspekten der "Wirklichkeit", in dem man Hypothesen experimentell überprüft und darauf basierende Prognosen erstellt – das war und ist ein roter Faden, der unser westliches Realitätsverständnis zusammenhält. Aussagen, die aus der eigenen Intuition, aus inneren Erfahrungen kommen, gelten dagegen als weit weniger zuverlässig oder praktisch nützlich. Sie sind nicht objektiv überprüfbar. Sie könnten dem Ego des Einzelnen dazu dienen, andere zu manipulieren oder einfach Einbildung sein, die in die Irre führt. Sie könnten durch Verschwörungstheorien erzeugt oder reiner Aberglaube sein, der Menschen unglücklich macht.

 

Dagegen hat die Geschichte seit der Renaissance, seit Galilei, Descartes und Newton gezeigt: Auf logischen Schlussfolgerungen basierende und durch eingetretene Prognosen bestätigte Wissenschaft  befähigten dazu, Naturkräfte zu verstehen und für sich nutzbar zu machen und die Macht kirchlicher Autoritäten zu hinterfragen. Im Laufe der Industrialisierung entwickelte Technologien erhöhten unterm Strich die materielle Lebensqualität, man konnte mehr Menschen von Krankheiten heilen und ihr Leben verlängern. Auf der gesellschaftlichen Ebene galt es fortan, als selbst denkende Individuen einen gesellschaftlichen Wertekonsens zu finden, der nicht von einem Glauben an eine höhere Gottes- oder Weltmacht abhing: So appellierte der Aufklärungsphilosoph Kant 1784: „Wage, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Wirtschaft will auch Wissenschaft sein

Die Wirtschaftswissenschaften - die sich eigentlich ja mit Interessen, sozialen Prozessen und Handlungen von Menschen auseinandersetzen - eiferten im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte dem Siegeszug des physikalisch-mechanistischen Natur- und
Weltverständnisses nach und wollten auch möglichst "objektiv" Wahrheit beschreiben. Sie verschleierten dabei, dass ihre Ideen und die von ihnen beeinflussten Wirtschaftssysteme selbst Fakten schafften, die sie angeblich nur "beobachteten": Self-fulfilling prophecies wie "Güter sind grundsätzlich knapp", "Menschen verfolgen getrennt von sozialen Zusammenhängen ihren eigenen Nutzen", "Eigentum als soziales Phänomen ist natürlich" usw.

 

Natürliche Systeme wurden infolge der Industrialisierung mehr und mehr zum "Gegenstand", reduziert auf etwas, das beforscht und nutzbar gemacht wurde. Der Mensch verhält sich bis heute weniger als in die Natur eingebettetes, mit dieser in einer lebendigen Beziehung stehendes Wesen, sondern als ein von ihr scheinbar unabhängiger Nutzenmaximierer: In der Folge beuten die globalisierten marktwirtschaftlichen Mechanismen die Ressourcen des Planeten aus, rotten andere Lebensformen aus und bringen das globale Klima aus dem Gleichgewicht.

Was heißt das für uns?

Wir haben diese objektifizierende Weltanschauung "mit der Muttermilch" aufgesogen - bzw. sind spätestens im Bildungssystem so sozialisiert worden. Sie kann sich u.a. so in unserem Innenleben widerspiegeln:

 

1. Wir glauben oft nur an etwas, wenn wir es bereits im Außen bestätigt bekommen haben.

2. Wir beurteilen uns selbst oft als Objekt in den Augen des Systems - als Schönheitsobjekt, Leistungsobjekt, oder auch unseren Körper als Maschine und undurchschaubare Blackbox (im Fall dass wir krank werden).

3. Wir denken, wir brauchen "die Wissenschaft" mit ihren statistischen Tatsachen, anwendbaren Methoden, bestätigten Theorien dazu, um auch auf unsere intimen Lebensfragen Antworten zu bekommen und unsere persönlichen Probleme zu lösen.

 

Doch oftmals scheitern wir, mit diesem Denken unseren inneren Frieden zu finden - in der Beziehung zu anderen, im Job, in der Art, wie wir unser Leben leben. Da stimmt doch irgendetwas nicht, denken und fühlen wir?

Unser Chaos: Ein Geburtsschmerz

Wie also sich neu ausrichten und gleichzeitig die Errungenschaften des oben entfalteten Denkens bewahren? Dieses alte Denken orientiert sich stark an der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts. Man ging von unzerteilbaren Atomen als Grundbestandteilen der Welt aus, die nach festen Gesetzen mit anderen Teilchen interagieren, sich ständig umordnen und dadurch erst Form und Gestalt hervorbringen.Die auf Erkenntnissen von Planck, Einstein, Heisenberg, Bohr und anderen fußende Quantentheorie des 20. Jahrhunderts erweiterte das physikalische Weltbild radikal.

Nimm dich als Subjekt ernst!

Die moderne Physik zeigt: "Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig." (Dürr 83) Es macht keinen Sinn mehr, zu fragen: Was ist? Was existiert? Denn das, was ist, gebiert sich immer neu und ist nicht vorhersagbar; jenseits von Energie und Materie finden wir nur Information, nur den Wandel, den Prozess. Der Kosmos als Informationsfeld ist nicht wirklich teilbar, und wir als geistiges Bewusstsein sind natürlich immer Teil dessen. Unsere gedanklichen Prozesse, Haltungen, Bewusstseinszustände sind ebenso real und relevant wie das, was uns im Außen an Materie begegnet.

 

Doch heißt das nicht in Bezug auf die Weltanschauung des "aufgeklärten" Menschen Folgendes?

 

1. Indem wir glauben, gebären wir Wirklichkeit.

2. Wir sind Subjekte, die selbst ihre Realität erschaffen, und setzen selbst die Maßstäbe, an denen wir uns messen.

3. Wir selbst sind immer in Beziehung - zu unserem Körper, zu Mitmenschen, Wissen, Natur - und am fortlaufenden Schöpfungsprozess in einem nicht unauftrennbaren Kosmos beteiligt.

Der Anfang unserer Möglichkeiten

Viele Aspekte dieser systemischen Sicht auf Wirklichkeit sind nicht neu: Sie entsprechen über weite Bereiche dem Wissen indigener Kulturen, die sich schon immer als Teil einer größeren, lebendigen Wirklichkeit begriffen haben und den Planeten als sich-selbst-organisierendes, intelligentes System, das uns wie ein größerer Körper umgibt.

 

Heilung - also die Lösung von persönlichen, kollektiven bis hin zu globalen Problemen - bedeutet in der Perspektive, dass wir uns selbst wieder besser mit diesem Ganzen verbinden und in Balance kommen müssen, innen wie außen. Das tun wir, indem wir das Wissen, das in uns selbst liegt – also nicht das, was uns durch Schule, Universität und Medien vermittelt worden ist – wieder selbst entdecken. Wir sind gefordert, nach dem Sinn unseres Lebens suchen und danach, wie dieser sinnhaft mit dem großen Ganzen verbunden ist.

 

Wir dürfen uns wieder mitfühlend identifizieren. Das bedeutet eine Synthese, "in der Politik und ökologisches Engagement zur spirituellen Disziplin werden, wo der rational-wissenschaftliche Blick ehrfurchtsvolles Staunen auslöst, wo das Zulassen von Gefühlen zu vernünftiger Politik führt und die Natur als kreative, beseelte und intelligente Kraft verstanden wird, in der wir uns spiegeln und von der wir lernen können. Diese Politik muss nicht erst neu entwickelt werden. Sie ruht in unseren Herzen." (Lüpke 21)

Wach auf, aber richtig

Was aber, wenn Appelle "selbst" zu denken und zu "erwachen" aus einer Quelle des Hasses kommen und dazu führen, das sich Menschen gegenseitig anfeinden, sich bedroht fühlen oder sich zu einer Ideologie bekennen sollen? Die aktuellen, durch die Corona-Krise angestoßenen Social-Media-Debatten über Wissenschaft und Esoterik, Impfen und Nicht-Impfen sind aufgeheizt und schrecken viele ab, sich mit Gedankengut zu befassen, das in irgendeiner Weise "spirituell" sein könnte.

 

Umso mehr geht es darum zu lernen, glasklar zu unterscheiden zwischen Aussagen über die Welt, denen wir vertrauen, und denen, die wir begründet ablehnen. Das, was uns dabei helfen kann, ist, 1. wieder auf die eigene innere Stimme zu achten – in dem wir durch Praktiken wie Meditation, Atemtechniken und Gefühlsarbeit zunächst urteils- und gedankenfrei beobachten lernen und dann aus der Stille heraus spüren: Was tut mir gut, was schwächt mich? 2. Im Folgenden liest du 8 Merkmale einer Haltung, die dir helfen kann, unterscheiden zu lernen, ob eine Weltanschauung dich weiterbringt oder dich in die Irre führt.

Acht Merkmale einer aufgeklärten Spiritualität

Mit dieser Haltung navigierst du gelassener durch das verwirrende Weltdeutungs-Angebot der Medienlandschaft und lernst womöglich, dich selbst im Spannungsfeld zwischen alten und neuen Überzeugungen so zu positionieren, dass es dich in Frieden bringt. Achtung! Die Kriterien sind ein auf eigenen Erfahrungen basierender Entwurf, also mehr Diskussionsgrundlage als bestätigte Hypothese. Letztlich kannst natürlich nur du selbst darüber urteilen, ob sie dich weiterbringen oder nicht.

 

1. Demütig im Denken bleiben
Das bedeutet, dass du jederzeit offen für neue Erkenntnisse bist und bereit, alte Überzeugungen und Skepsis loszulassen, wenn deine Erfahrung dich anderes lehrt. Du hast kein Problem damit, dich geirrt zu haben und deine Auffassung zu revidieren – aber eben nur, wenn du gute, für andere nachvollziehbare Gründe und Evidenzen in deiner eigenen Lebenserfahrung dafür hast.

 

2. Orientiert an Bedürfnissen forschen und lehren
Neue Erkenntnisse sollten sich langfristig daran orientieren, Bedürfnisse menschlichen und nichtmenschlichen Lebens zu erfüllen, Konflikte zu lösen, Schmerz zu lindern usw.. Ebenso wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen muss mit spirituellen Erkenntnisprozessen und -methoden heute noch meist Profit gemacht werden, um als Anbieter*in zu überleben. Sobald der Profit jedoch zum Selbstzweck wird, gerät man schnell in den Zwang, manipulieren und überzeugen zu müssen: Der hat in Erkenntnisprozessen aber nichts zu suchen. Aufgeklärte Spiritualität muss langfristig entökonomisiert werden.

 

3. Vorbilder sind authentisch und angreifbar
Autoritäten in dem Bereich gibt es, wie es überall Vorbilder und Lehrende gibt – aber sie machen ihre eigenen Vorbilder und Prozesse transparent und präsentieren sich nicht als allwissend. Ihre Rolle ist es, sich selbst langfristig überflüssig zu machen. Jede*r bleibt bei sich, niemand missioniert, inszeniert sich als überlegen oder setzt unter Druck.

 

4. Die innere Stimme hat das letzte Wort – nicht äußere Autoritäten
Es geht nicht darum, einer*m Guru zu glauben. Es geht darum, bei Aussagen im Inneren herauszufinden, ob sie für einen stimmig sind oder nicht. Jede*r ist frei, sich dazu die Vorbilder zu suchen, die beim eigenen Erkenntnisprozess nützen – aber nie wird die Verantwortung für das eigene Leben an diese abgegeben.

 

5. Sich des eigenen Nicht-Wissens bewusst sein und zuhören kultivieren
Erkenntnis geht nicht ohne die Fähigkeit, auch denen zuhören zu können, bei denen es schwerfällt. Denn immer hält der Aspekt, der uns darin begegnet, etwas bereit, was unseren Horizont weiten kann. Vielleicht liegt er nicht einmal in dem, was gesagt wird, sondern vielmehr in der Emotion, dem Konflikt oder der Tatsache, die sich dadurch offenbart und mich zwingt, meine Vorstellung von Realität um diese Facette zu erweitern (ohne dabei meine eigene Wahrheit aufgeben zu müssen.)

 

6. Anerkennen, dass Leben und Welt komplex und un-fassbar sind
Überzeugungen und Weltanschauungen helfen, aber können nicht zur Erklärung für Alles immerzu dienen, sonst geraten sie schnell zur einengenden Ideologie, die Phrasen, Namen, Etiketten, Kodizes, Verhaltensmuster, soziale Erwünschtheiten, Masken, Gruppendynamiken erzeugen kann, in der die eigene Individualität nicht sein darf. Die Graustufen müssen immer erhalten bleiben. Letztlich ist Wissen immer höchstens verblasste Realität, niemals Realität an sich – niemals das sich vollziehende, ewig wandelnde Leben selbst.

 

7. Erkenntnisse werden selbst gelebt, nicht missioniert
Bei neuen Erkenntnissen ist man schnell versucht, sie heraus zu posaunen, weil alle andere auch von ihnen profitieren sollen. Das verkennt aber, dass die anderen gerade auf ganz anderen Erkenntniswegen unterwegs sind, in denen sie dafür vielleicht gar nicht empfänglich sind, ist also verlorene Liebesmüh. Viele Erkenntnisse lassen sich daher besser defensiv und implizit verbreiten, indem man Erkenntnisse selbst zu leben versucht, diese, wenn man gefragt wird, als eigene Wahrheit formuliert und damit beiläufig zum Vorbild wird für andere.

 

8. Sprache: Gerne auch emotional, stockend oder gebrochen – aber auf jeden Fall klar, schnörkellos und authentisch
Eine aufgeklärte spirituelle Haltung kommt in einer aufgeklärten Sprache daher, die nicht darum herum redet, verschleiert, imponieren möchte oder emotional manipuliert, sondern das kommen lässt, was sich durch den Erkenntnisprozess in diesem Moment gezeigt hat.

Was bringt es, aufgeklärt spirituell zu sein?

Warum ist es wichtig, sich in dieser Haltung auf neue Weltanschauungen und Denksysteme einzulassen? Wenn wir damit Aussagen, Theorien, Zusammenhänge, Überzeugungssysteme prüfen, die uns im Alltag begegnen, haben wir festen Boden unter den Füßen, ohne daran festzuhaften. Auch und vor allem in unserer Zukunft - die dialogischer, dezentraler und horizontaler organisiert sein wird - wird es wichtig sein, in Abstimmungsprozessen, Gemeinschaften, Diskursen, Institutionen usw. begründet unterscheiden zu können, ob ein Vorschlag, ein Urteil, eine Arbeitskultur, ein Regelsystem, ein Ritual etc. eher ego-manipulativ und hass- oder angstbasiert motiviert ist oder in einem aufgeklärt spirituellen Prozess entstanden ist. Es gilt, unterscheiden zu lernen, ob ein Verhalten und eine Entscheidung hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurückfällt, oder ob sie das aufklärerische Erbe integriert - auf der Suche nach neuen, bewusstseinserweiternden Erkenntnissen, die uns als Menschheit weiterbringen, wie auch immer genau diese aussehen werden.

Siehst du das anders, hast Fragen oder Anmerkungen? Dann diskutiere gern mit in JuliTopias Facebookgruppe oder kommentiere unten!

Willst du ein Gefühl dafür bekommen, wie sich eine aufgeklärt spirituelle Haltung auf den eigenen Alltag auswirken könnte? Dann lies doch mal in meine utopian fiction Serie rein:

Quellen:

Dürr, Hans-Peter (Quantenphysiker, Aktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises): Warum es ums Ganze geht (2012)

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), online.
von Lüpke, Geseko: Politik des Herzens. Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Gespräche mit de Weisen unserer Zeit. (2003)

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